Eine detaillierte Darstellung der historischen und architektonischen Aspekte des sfakiotischen Hauses steht hier zum Download bereit.


Das sfakiotische Dorf Kolokasia (Winterdorf des 4 km entfernten in 700 m Höhe gelegenen Asfendu) war bis in die 70er Jahre, als es verlassen wurde, ein Dorf in dem Menschen lebten und arbeiteten und zugleich ein einzigartiges, lebendiges architektonisches Ensemble.

Κολοκάσια 1986-2000

In etwa 250 m Meereshöhe gruppierten sich am Berghang über einem Olivenhain ca 40 Häuser, die durchweg in jahrtausendealter traditioneller Bauweise mit natürlichen Materialien nach dem Plan des σφακιανό καμαρόσπιτο, des „sfakiotischen Bogenhauses“ errichtet waren. Während die übrigen Dörfer des damaligen Landkreises Sfakia bereits mit (weitgehend asphaltierten) Straßen erschlossen und an das Strom- und Telefonnetz angeschlossen waren und durch neue Tiefenbohrungen über ganzjährig fließendes Wasser verfügten, blieb Kolokasia „abgehängt“. In den Dörfern, die von der modernen Infrastruktur profitierten, kam es seit Ende der 50er Jahre zu einem bescheidenen „Bauboom“.

Wer es sich leisten konnte, baute sich – häufig auch dank günstiger staatlicher Darlehen – ein zeitgemäßes neues Haus aus Beton, Ziegeln und Hohlblocksteinen, mit WC und Dusche. Die alten Bogenhäuser, aus denen einst auch Komitades, Vuvas und Patsianos bestanden, wichen den Neubauten oder durften noch als Lagerschuppen oder Stall ein Dasein fristen. Vor dem EU-Beitritt (als es dafür Subventionen gab), wurde ganz selten versucht, ein altes Haus so zu sanieren, dass man zeitgemäß darin wohnen konnte (was durchaus möglich ist, wie pionierhaft das Haus des legendären Papageorgis in Nomikiana zeigte).

Während also die Dörfer an den neuen Straßen zu einem Konglomerat aus Neubauten (außerhalb jeglichen Bebauungsplans) und mehr oder weniger verfallenen alten Steinhäusern mutierten, hielt sich in Kolokasia, auch nachdem es verlassen war, die alte Struktur. Nur leider bringt es die Bauweise des Sfakiotischen Hauses mit sich, dass es ohne ständige Pflege und Unterhaltung keine 10 Jahre unversehrt überleben kann. Schwachpunkt ist insbesondere das Dach: auf dem stabilen Bogen, der den einzigen Raum in zwei Hälften teilt, liegen massive Steineichenbalken auf, die mit einer Lage von Scheiten aus Olivenholz gedeckt werden. Darauf kommt Stroh oder Schilf und schließlich eine bis halbmeterdicke Schüttung von Erde. Damit diese bei Regen nicht weggeschwemmt wird und sich keine Gewächse ansiedeln, die mit ihren Wurzeln das Dach porös machen, wird auf der Dachoberfläche Meersalz ausgebracht. Die gesalzene Erde muss mit einer mächtigen Steinwalze, der κύλινδρα, regelmäßig planiert werden. Bleibt dies aus, dauert es wenige Jahre, bis das Dach sich auflöst. Da die Wände aus Bruchsteinen bestehen, die in der Regel nicht verputzt und wiederum nur mit Erdmörtel (ohne Zement) zusammengefügt sind, dauert es nicht lange, bis der Mörtel ausgewaschen wird und auch die Mauern Schäden erleiden.

Das Finikas mit dem 2. Erddach

Als wir Kolokasia Mitte der 80er Jahre „entdeckten“ – und die Häuser somit etwa 10 Jahre keine Pflege mehr erhalten hatten – waren die meisten noch in einem Zustand, der eine Sanierung ohne allzu großen Aufwand erlaubte. Zumindest aus einer gewissen Entfernung schien das Ensemble weitgehend intakt. Sogar zahlreiche Steineichen-Balken waren noch verwendbar. Da es keine Straße gab und somit keine Möglichkeit, Baumaterialien in großer Menge anzufahren, hatten wir nur wenig Zement zur Verfügung (den wir auf dem Rücken hochtrugen) und nahmen ansonsten, was wir vor Ort fanden. Dem ersten rekonstruierten Haus, dem Finikas Spiti oder Φοίνικας kam das zugute. Wahrscheinlich auch aus Mangel an Baumaterial kam niemand auf die Idee, irgendetwas an- oder umzubauen: es entspricht bis heute 100%ig dem Bauplan des originären Sfakiotischen Hauses, wie man es z.B. modellhaft im ethnographischen Museum von Vori (Titelfoto) oder in dem volkskundlichen Kompendium von Kanakis Geronimakis gezeigt bekommt.

Κανάκης Γερωνυμάκης: Η Κρήτη στο πρόσφατο παρελθόν

Auch das zweite von uns erworbene Haus, das Palati, wurde (abgesehen von Abteilungen im Obergeschoss) nach dem vorgefundenen Plan wiederhergestellt. Während das Unterhaus ebenfalls weitgehend dem Modell entspricht, hatte es hier allerdings einige Jahrzehnte zuvor Umbauten gegeben, insbesondere den herrschaftlich anmutenden Aufbau eines gequerten zweiten Stockwerks, der als οντάς aber auch nicht ganz unüblich war. Vermutlich während der deutschen Besatzungszeit wurde einer der drei σοφάδες zugemauert und zur „Pulverkammer“ umfunktioniert. Die Besatzer quittierten das mit dem Versuch, das Haus in Brand zu setzen, wovon noch Spuren vorhanden sind. In seiner Abweichung vom Grundbauplan erzählt das Palati Geschichte und ist auch ein Denk- und Mahnmal.

Das Palati, an unserem Anfang (ca 1990)

Alle Häuser, die später gekauft und renoviert wurden, bzw. ihre Bauherr:innen profitierten (mit Ausnahme des einfach gebliebenen κέντρο) davon, dass es kein so großes Problem mehr war, sich Zement, Sand und Ziegelsteine liefern zu lassen. Dadurch kam es zu Auf- und Anbauten, die teilweise traditionelle Strukturen zitieren, insbesondere den Küchenturm, nun umfunktioniert zum Wasserhäuschen oder zur zusätzlichen Schlafkammer, teilweise aber auch die ursprüngliche Struktur komplett unter sich begraben.

Ein wesentliches – komplett funktionales – Stilelement des sfakiotischen Hauses ist das Fenster – ja, DAS Fenster, denn es gab nur eines, maximal 80×80, nach Süden, wartungsfrei, und eventuell noch eine minimale Luke schräg über der Tür.  Dadurch fiel alles Licht, das man tagsüber brauchte, aber im Sommer wenig Hitze, im Winter weniger Kälte und Regen und wenig Zugluft. Verständlich ist das Lichtbedürfnis des Mitteleuropäers und in die Weltliteratur eingegangen durch Goethes angebliche letzte Worte „mehr Licht!“, aber die Umsetzung dieses Bedürfnisses in Kolokasia hat zahlreiche Fassaden und insgesamt das uralte harmonische Gesicht des Dorfes verzerrt und wird eventuelle (immer noch erwartete) längerfristige Bewohner auch nicht immer glücklich machen.

Finikas nach der ersten Renovierung (ca 1990)

Zweifellos ist es besser, ein Haus mit Um- und Anbauten zu (re)konstruieren, als es komplett dem Verfall anheim zu geben. Ideal wäre es aber gewesen, wenn wir alle rechtzeitig ein Bewusstsein dafür entwickelt hätten, welchen unwiederbringlichen Wert das Dorf Kolokasia in seiner Gesamtheit noch in den 80er Jahren als einzigartiges Zeugnis einer uralten mittelmeerischen volkstümlichen Bautradition darstellte. Von den inzwischen wieder hergestellten acht Häusern haben immerhin drei sichtbar dazu beigetragen, dieses Kulturerbe für die Nachwelt zu erhalten – die übrigen zumindest durch die Bewahrung des Innenraums mit dem charakteristischen Bogen und der eigentümlichen Raumteilung. Inzwischen wissen wir mehr über den kulturellen Wert des Sfakiotischen Hauses und hätten noch die Chance bei den zur Rekonstruktion anstehenden Häusern „Bausünden“ in dem Maße zu vermeiden, dass auch sie später als Teil des architektonischen Welterbes in Sfakia/Kreta gelten könnten.

Auf der speziellen Themenseite dieses Blogs Das Sfakiotische Haus bemühe ich mich zukünftig weitere diesem Zweck dienliche Materialen bereitzustellen.

Verfall und Rettung des sfakiotischen Hauses

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