Auf der Outdoor-Plattform Komoot stehen über 40 vom Kolokasia-Team durchgeführte Wanderungen durch die sfakiotischen Gefilde zur Einsicht und zum Download bereit.
Hier ein schon historischer Bericht aus dem Jahr 1989. Vieles ist noch zutreffend, nur Livaniana ist inzwischen ganz verlassen, obwohl es Strom und eine asphaltierte Straße bekommen hat.
Pfade durch die Sfakia
Wandern in Kretas sich wandelndem wilden Westen [1989]
Lutró, ein Dorf aus dem Griechenlandbilderbuch. Etwa 15 eingeschossige weiße Häuschen gruppieren sich verträumt um eine malerische Bucht. Am breiten Kiesstrand – im Mittelpunkt wie ein Wahrzeichen – die hohe alte Phoenixpalme. Die Häuser blicken einen an wie Gesichter, mit ihren Augenfenstern und Nasentüren.
So war Lutró vor fünfzehn Jahren, vielleicht auch noch vor zehn. Aber die Zementsäcke, sie waren schon damals ein Zeichen dafür, daß es mit diesem Örtchen touristisch bergauf gehen würde. Heute gibt es kein einstöckiges Haus mehr in Lutró. Jedes Haus am Wasser ist eine Kneipe und wird zum einen von einem Rent-Room-Schild verziert, zum andern von monströsen Stromzählern, die von einem beachtlichen Kontingent von Kühlschränken, Fernsehern und Mikrowellenherden in Bewegung gehalten werden. Die Palme neben der Schule hat schon lange ein Sturm niedergemacht – das neue Wahrzeichen am Strand ist ein Postkartenkiosk. Wichtig auch das Schild Nudism Prohibited, das trotz allem daran erinnert, daß man sich an einem Ort befindet, der Anstand und alte Tradition in Ehren hält. Die Bretterkneipe, wo die Dorfmänner einst unter sich waren, existiert nicht mehr. Die Lutrianer setzen sich jetzt abends um 11 zusammen, wenn – wohl aufgrund kartellmäßiger Absprache – für Touristen in allen Kneipen das Licht ausgegangen ist. In dem einstigen Garten am Strand wachsen jetzt keine Feigen mehr, sondern ein Rohbau. Aus dem 3. oder 4.Stock wird man dereinst einen schönen Blick auf die Bucht haben, in der abends auch schon lange nicht mehr die Santa Maria ankert, sondern eine gigantische Fähre, die mehrere Hundert Passagiere faßt und nach Größe und Gestalt ebenso gut hierherpaßt wie ein Flugzeugträger der US-Navy. Das Absurde ist, daß es sich bei dem Monstrum um eine Autofähre handelt, wo doch eines sicher ist: daß es in den nächsten Jahren sicher keine Straße nach Lutró oder gar weiter in Richtung Ajía Ruméli geben wird. Nicht wegen technischer Probleme oder weil das Geld fehlte: Vielmehr verdienen allzu viele Familien in Lutró oder Chora Sfakion direkt oder indirekt am autolosen Status des Hafendörfchens. Nach langem Kopfschütteln haben sie’s eines Tages doch gecheckt: ein Dorf ohne Straße, das zieht die Deutschen und die Franzosen an, vor allem diejenigen, die sich nach Eselsmanier mit riesigen sakkoulia bepackt über die Hänge quälen und die gar nicht so arm sind, wie sie aussehen. Wer mit den Kneipiers und Bootsbesitzern spricht, merkt gleich, daß hier eine wohletablierte Anti-Straßenlobby das Sagen hat und vermutet, daß irgendjemand irgendwo schon mal vorsichtshalber ein paar Stangen Dynamit beiseite gelegt hat.
Touristen kommen zwar in Scharen – seltener wohl aber die Bauaufsichtsbehörde. Und sollte doch mal eine Strafe wegen illegalen Hausbaus fällig werden (genehmigtes Bauen ist in diesem archäologisch noch vielversprechenden Gebiet ja nun leider nicht möglich): sie ist nicht allzu hoch, auf jeden Fall aber niedriger als die Summe von Verwaltungsgebühren und Bestechungsgeldern, die auch der gewiefteste Sfakiote aufbringen müßte, um den Behördenolymp in Chaniá günstig zu stimmen.
Die Sfakiá – der Distrikt am Südhang der Lefká Ori zwischen Skalotí und Agía Ruméli – ist zwar keine touristenfreie Wildnis mehr, aber immer noch einer der landschaftlich und menschlich interessantesten Winkel Griechenlands – unter anderem weil sich gerade hier ein Wandel vollzieht, der dennoch nicht in den üblichen Bahnen der „Touristisierung“ verläuft. Die etwas künstlich aufrechterhaltene Autofreiheit macht die Gegend zum idealen Wanderrevier – wenn man ein Gebiet so bezeichnen darf, in dem die meist bejahrten Hirten und Bauern, obwohl es ihnen so recht lästig ist, jeden Weg zu Fuß tun müssen und wo die einst kunst- und mühevoll angelegten Fußsteige aus reiner Utilität unterhalten werden.
Fast alle Wege sind hier Zeugen einer über 2000jährigen Geschichte, so auch der Pfad, der von Lutró aus nach Westen über eine Halbinsel in die nächste Bucht kriecht. Lutró war einst eine blühende Hafenstadt. Zusammen mit Anopolis, seiner „Oberstadt“ zählte es mehrere Tausend Einwohner. Die zerfallenden Gemäuer, zwischen denen der Weg sich hindurchschlängelt, sind jedoch kaum ein Jahrhundert alt. Die „naturnahe“ zementfreie Bauweise, in der die Kreter bis vor etwa 40 Jahren ihre Behausungen errichteten, ließ ein verlassenes, nicht gepflegtes Haus in weniger als zwei Jahrzehnten zerfallen. Die relativ intakten Mauern auf dem Bergrücken zwischen den beiden Buchten – Reste einer Festung und einer Windmühle – sind türkischen Ursprungs. Auch wenn’s hier ungern zugegeben wird: so ganz unberührt vom osmanischen Joch blieb auch dieser Landstrich nicht. Nach etwa 20 Minuten erreicht man die Stelle, die noch den Namen jener antiken Stadt trägt, die damals die ganze Halbinsel einnahm: Fínikas. Daß hier einst ein Bischofssitz gewesen sein soll, kann man sich schwerlich vorstellen. Immerhin fällt es heute leichter als vor ein paar Jahren, denn damals war hier nichts als ein Kapellchen mit einer Phönixpalme davor und ein Kiesstrand, an dem Wissende hin und wieder trichterförmige Gruben aushoben. Darin sammelte sich dann nämlich wie an vielen Sfakia-Stränden Süßwasser, das unterirdisch von den Weißen Bergen ins Libysche Mer strömt.
Jetzt ist in Finikas vom Strand aber nicht mehr viel übrig. Aus der Asche des alten Phoenix ist hier nämlich die recht gemütliche Tavernen-Pension von Sifis aus Anopolis erstanden. Jedes Jahr wächst sie um ein Stockwerk in die Höhe und die Betonterrasse vor der Kneipe ein paar Meter in die kleine Hafenbucht hinein. Die natürlich nur zu Fuß (oder mit der eigenen Yacht) zu erreichende Unterkunft ist ein typischer Geheimtip: meist ausgebucht von 70% Deutschen und Österreichern und 30% Franzosen, schließlich erscheint – quantité négligeable – am Wochenende der Friedensrichter aus Chora Sfakion, der an der fragwürdigen Rechtslage der hiesigen Bauvorhaben keinen merklichen Anstoß nimmt. Hierher kommen Leute, denen es in Lutró schon zu laut und denen die Dörfler dort schon zu unfreundlich oder arrogant vorkommen (dabei sind so die wahren Sfakioten). Wenn man hier eine Nacht geblieben ist und sich nicht auf Dauer damit anfreunden will, daß das ständige, auch nächtliche Knattern von Betonmischmaschinen zu einer südkretischen Idylle dazugehört, dann geht man weiter nach Westen, steigt um eine Felsnase herum und wieder hinunter zum Meer. So erreicht man nach einer halben Stunde einen Likos („Wolf“) genannten Ort, den seit einigen Jahren gleichfalls ein zwar schwarz gebautes, aber blendend weißes Tavernchen mit Rent-Room ziert, noch eine Spur geheimer und wirklich ruhiger als bei Sifis, so daß man schon fast um die Existenz dieser Einrichtung bangt und dem jungen Wirt doch ein paar mehr Gäste gönnt. Sie gehört dem Sohn des berühmten Fotokreters Manolis aus Livanianá. Anstatt nun, wie alle Wanderführer empfehlen, an der Küste entlang weiterzugehen, sollte man den interessanten Abstecher in dieses etwa 300 Meter (rund 1 Stunde) über dem Likos gelegenes Dorf auf sich nehmen. Noch etwa 20 alte Leute leben hier und fragen sich, ob die Straße, die seit einigen Jahren von Anopolis bis immerhin 1 km vor das Dorf führt, noch zu ihren Lebzeiten fertiggestellt wird, oder ob man wartet, bis Livanianá ganz ausgestorben ist. Manolis sitzt meistens mit seiner Frau und seinem Fernglas (neben der Knarre dem Lieblingsspielzeug aller Gebirgskreter) auf der Terrasse mit der schönsten Aussicht der Welt, und wenn Rucksackleute vorbeikommen und ihm nach weiterer Gesellschaft ist, ruft er sie – „Ela, ela! Jermaní?“ – herbei. Meistens ist ihm dann auch trotz des mahnenden Blicks seiner Frau nach einem Schnäpschen, und er schickt sie nach jenem nie leer werdenden Wunderfläschchen mit Rakí, der auf Kreta übrigens meist Tsikudhiá genannt wird, weil man sich mit dem türkischen Wort nicht den Mund beschmutzen will. Wenn die obligatorische Konversation („Woher?“, „Wohin?“, „Bist du verheiratet?“ usw.) absolviert ist und Stille einkehrt, erzeugt Manolis Geselligkeit fördernde Geräusche, indem er mit Fragmenten einer antiken Skulptur Mandeln aufschlägt, und reicht diese einzeln seinen Gästen. Nach wenigen Minuten kommen dann seine Frau und eine Nachbarin mit selbstgehäkelten schwarzen (echten) und weißen (touristischen) Seiden-mandilia, der ortsüblichen männlichen Kopfbedeckung. Der Preis, ca. 40 DM, erscheint hoch, ist aber in Anbetracht der tagelangen Arbeit gerechtfertigt. Früher konnte man hier auch hin und wieder einen der echten, robusten kretischen Wollrucksäcke erstehen: die Wolle selbst geschoren, gewaschen, gefärbt, gesponnen, gewebt und vernäht. Der Kenner solcher Kleinode legte dafür gerne 50 – 80 DM auf den Tisch: heute bekommt man sie auch für das Doppelte nicht mehr. Manolis läßt sich gerne photographieren. Früher war er geradezu ein Star. In voller sfakiotischer Hirten- oder Kriegertracht erscheint er auf Dutzenden von Ansichtskarten, in Bildbänden und Kalendern. Das Wohnzimmer ist über und über mit Photos und Karten tapeziert (und er verwahrt noch einen ganzen Koffer weiterer Ablichtungen), die sämtlich Manolis zeigen, des öfteren auch mit einer blonden Touristin im Arm. Heute wirft er sich allerdings nicht mehr groß in Schale, wenn man die Kamera zückt. Er zieht nur verschämt die Brille ab, streift sich vielleicht was Schwarzes über sein Freizeitdreß, das kratzige Unterhemd aus Naturwolle, und murmelt, daß er doch bloß noch eine Ruine sei, wie halt das ganze Dorf.
Vom Rakí leicht angetörnt setzen wir schließlich unseren Weg fort. Hat man das weiße Kirchlein hinter sich gelassen, von dem das Hangdorf gekrönt wird, steigt der Weg noch ein wenig an und führt, zumindest im Frühjahr, über paradiesische Wiesen, übersät von weißen und gelben Margeriten, roten und violetten Anemonen, dazwischen Asphodelos, der dem Mythos zufolge den Weg in die Unterwelt säumt. Und wenn man dann die Dorfgrenze passiert, die sich als sorgfältig zu schließendes Antiziegengatter manifestiert (sonst keine Paradieswiese), dann ist die anmutige Küste längst hinter Felsriegeln verschwunden und man befindet sich mit einem Pfortenschlag in der rauhen und großartigen Bergwelt der Lefká Ori. Drei Wege stehen nun zur Auswahl: rechts geht es auf imposantem Paßpfad in etwa 1 Stunde nach Anopolis, etwas weiter ist es geradeaus nach Arádhena mit dem byzantinischen Freskenkirchlein an der gleichnamigen Schlucht. Wir wählen die dritte Möglichkeit und steigen über eine eher weglose Halde in genau diese Arádhena-Schlucht. beim Abstieg halte man sich rechts, also schluchtaufwärts, auch wenn das eigentlich die falsche Richtung ist, es sei denn man möchte die Wanderung mit einer halsbrecherischen Klettereinlage verquicken. – Und überhaupt: Klettern. Wenn wir nun im oleanderduftenden Talgrund dieser ganzjährig menschenleeren Schlucht angelangt sind, müssen wir uns der Entscheidung stellen. Steigen wir in etwa einer guten Stunde links relativ gemütlich wieder zur Küste hinab (tiefer als 1,50 m muß man eigentlich nie springen), oder versuchen wir Arádhena auf einer sicher dreistündigen Extremwanderung auf der Schluchtstrecke zu erreichen? Ich selbst – bergsteigerisch absoluter Laie – habe den Weg in dieser Richtung nie zurückgelegt, wohl aber den Abstieg von Arádhena zum Meer bewältigt. Der gängigen Meinung unter den Einheimischen zufolge ist der obere Schluchtteil unpassierbar. Vermutlich handelt es sich aber um eine Redeweise, die noch aus den Zeiten türkischer und deutscher Besatzung stammt, als ganze Dorfbevölkerungen wochenlang in den geheimgehaltenen Schluchtwinkeln untertauchten. In der oberen Arádhena-Schlucht steht man lediglich an einer Stelle vor einem etwa 5 m tiefen Abgrund, den auch der im Klettern Unerfahrene mit einem entsprechenden Seil und der Hilfe eines Gefährten überwinden kann.
Beeindruckend ist aber auch die weniger problematische Route nach Süden. Die einige Hundert Meter hohen Felswände rücken bis auf wenige Meter zusammen und verstärken gespenstisch das Knirschen der Schritte im Kieselgeröll. Ein leichter Aasgeruch liegt in der Luft, denn irgendwo liegt immer eine abgestürzte Ziege rum. Botanisch interessierte Augen entdecken in den Felsspalten seltene endemische Gewächse wie den Farn Pteris cretica oder die prächtige kretische Rutenglockenblume Petromárula. Erst unmittelbar vor dem Meer tut sich die Schlucht auf und mündet in den wunderschönen Dhialeskari-Strand, genannt auch Ta Mármara: schwarzweiße Marmorfelsen mit einer unvergleichbar körperfreundlichen Oberfläche, obwohl natürlich steinhart, begrenzen eine Bucht aus feinem grauen Sand und glasklar-blauem Wasser. Bei Insidern heißt dieses Plätzchen der „Affenfelsen“. Tagsüber strömen nämlich die Wander- und FKK-Freunde aus Fínikas und Lutró (wir erinnern uns an das Schild am dortigen Strand) hierher, um nach Art eines Pavianrudels ihre empfindlichsten Körperteile der Sonne und dem Meer auszusetzen, und auch wer den stundenlangen Marsch aus Agía Ruméli, also der anderen Richtung, hinter sich hat, kann hier offenbar kaum anders, als sich blitzschnell von einem Lastmuli in einen nackten Affen zu verwandeln.
Wer mag, kehrt an diesem Abend mit den anderen wieder nach Likos oder Fínikas zurück – wer entsprechend ausgerüstet ist, verbringt hier die Nacht, um am nächsten Morgen weiter nach Westen zu ziehen. Eine relativ eintönige Wanderung führt in ca. 3 Stunden über felsige Küstenpfade in meist praller Sonne nach Ajía Ruméli – zwar noch immer am Ende der Sfakiá und der Welt gelegen, inzwischen aber eine schon groteske Touristenschleuse. Im Sommer werden tagtäglich einige Tausend mehr oder weniger organisierte Wanderer und Nordküstenurlauber am Schlund der Omalós-Ebene von der Samariá-Schlucht verschluckt (die inzwischen immer zahlreicheren griechischen Touristen erkennt man an ihren Badeschlappen); nach 3-4stündigem Abstieg spuckt sie der fraglos gewaltigste der kretischen farangia an seinem unteren Ende wieder aus. Nach Abspeisung mit „typical greek food“ werden die Scharen auf die Fähre nach Chora Sfakíon getrieben, wo die Busse schon den Motor angelassen haben.
Eine Straße nach Agios Jannis war im Frühjahr 1987 im Bau – vielleicht ist sie inzwischen „fertig“, aber die Lebensweise dieser beharrlichen Einsamkeits- und Gebirgssfakioten wird sich nicht von einem Jahr aufs andere ändern. Sehr viel schneller als zu Fuß oder Esel wird man auch auf der Holpertrasse nicht nach Anopolis gelangen; dazu kommt, daß eine Straße sich hier, kaum eingeweiht, sehr schnell wieder in Geröll und Schlamm auflöst, denn man baut nach dem Prinzip des Sprichworts Proti chroniá theli to dhíkeo („Das erste Jahr fordert sein Recht“): Einen soliden Unterbau erhalten die Gebirgsstrecken nur an den Stellen, wo sie sich im mindestens einjährigen Härtetest als instabil erwiesen haben.
Über die bewaldeten Hänge der Weißen Berge erreicht man nach etwa einer weiteren Stunde Arádhena, wieder ein Ort, der von einer über 2000jährigen Geschichte gezeichnet ist. Die vorletzte Episode: Ende der 40er Jahre rottete sich die Einwohnerschaft in der Folge eines Familienzwistes untereinander fast vollständig aus. Die Blutrache ist in der Sfakiá auch heute noch nicht ausgestorben. Auch andere alte „Bräuche“ halten sich umso hartnäckiger, als sie eine Herausforderung an die etablierte staatlich-gesetzliche Ordnung darstellen. Vielleicht sind die Sfakioten irgendwo auch ein wenig traurig, daß es keine Venezianer, keine Türken, und keine Hitlerdeutschen mehr gibt, denen sie heldenhaft widerstehen können.
Bei Arádhena überquerte man einst die Schlucht auf einem eindrucksvoll in die Steilwände gepaßten und perfekt gepflasterten Serpentinenpfad, der einen mit Ehrfurcht für die Baumeister früherer Jahrhunderte erfüllte. Heute tut man es auf einer nicht minder bewundernswerten Konstruktion: Seit neuestem schwingt sich eine Stahlbrücke von einem Schluchtrand zum anderen. Wie es heißt, wurde sie im wesentlichen aus den privaten Mitteln eines in Amerika zu Reichtum gelangten Auswanderers aus Agios Jannis finanziert – ein Brückenschlag über Jahrhunderte.
Noch 20 Minuten, dann tritt man bei Agios Dhimítrios in die Hochebene von Anopolis ein. Durch einen Olivenhain führt der Weg zum Zentrum der Streusiedlung. Auf dem runden Dorfplatz erinnert ein Denkmal an Dhaskalojannis, der im 18.Jh. einen dramatischen Aufstand gegen die Türken anzettelte. Anopolis ist ein scheinbar nichtssagendes Kaff mit seltsamen Menschen – tiefste Sfakiá, obwohl es hier jede Menge Autos, Bus, Fernsehen, Video und sogar eine Art Spielhölle gibt. Der rastlose Sucher des urigen Kretas zieht etwas enttäuscht weiter: auf einem schönen Panoramaweg wieder hinunter nach Lutró, oder am nächsten Morgen um 6 mit dem einzigen Bus nach Chora Sfakíon und weiter an die Nordküste, oder er schickt sich an, auf inzwischen vom Griechischen Alpenverein markierten Pfaden die Lefká Ori bis nach Thériso zu überqueren.
Aber vielleicht würde es sich auch lohnen, einfach ein paar Abende in der Kneipe von Manussos Glimenos rumzusitzen und wie es unter den Männern Brauch ist, einfach auf Ereignisse zu warten. In manchen Nächten, wenn lange nicht passiert ist, kommt es vor, daß an einem der Tische, wo die Schäfer mit den biblischen Hirtenstöcken in Wehrmachtsuniform sitzen, sich Stimmen zusammenfinden und zu einem Rizítiko-Lied verdichten:
Mutter, wenn meine Freunde kommen,
wenn die Unsrigen kommen,
sag ihnen nicht, dass ich gestorben bin,
damit ihr Herz nicht schwer wird.
Richte ihnen den Tisch, auf dass sie speisen
und das Bett zum Schlafe
und einen Schemel für ihre Waffen.
Und wenn sie sich des Morgens erheben
und sich von dir verabschieden,
sag ihnen dann , dass ich tot bin.